1. Kastration der Selbstverwaltung
Über Jahrzehnte haben es die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit ihren selbstverwalteten Kassenärztlichen Vereinigungen geschafft, eine hervorragende, stets zur Verfügung stehende und hochqualitative haus- und fachärztliche Versorgung sicherzustellen. Im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Krankenkassen wurde Patienten- und bedarfsgerechte Versorgung gestaltet. Anstatt aber der Selbstverwaltung dies auch in Zukunft zu überlassen, setzte ab 2005 eine Politik der immer stärkeren Reglementierung und Einengung freiheitlicher Selbstverwaltung ein. Dies begann unter dem Stichwort „Professionalisierung“ bereits unter Ulla Schmidt.
Gestaltungsmöglichkeiten wurden eingeschränkt, Verhandlungsmöglichkeiten beschnitten und das Korsett gesetzlicher Vorgaben Jahr für Jahr enger geschnürt. Eigentlich kann von Selbstverwaltung fast schon nicht mehr gesprochen werden. Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung selbst hat in der Ära Feldmann dazu einen destruktiven Beitrag geleistet.
Die gesetzlichen Krankenkassen wurden in einen Pseudowettbewerb getrieben, die Höhe des Zusatzbeitrages wurde zum Credo erhoben und die medizinische Versorgung spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Die „Krankenkassenfürsten“ konzentrieren sich auf ihre Versichertenzahlen und den Zusatzbeitrag, anstatt sich um die tatsächliche Gestaltung der medizinischen Versorgung ihrer Versicherten zu kümmern.
Jede Seite zieht sich auf ihre Maximalforderungen zurück, wie zum Beispiel die absurde Forderung nach Nullrunden, und die Schiedsämter eiern immer in der Mitte herum, anstatt auf Fakten basiert mutige Entscheidungen zu treffen. Der andauernde ständige faule Kompromiss lähmt das System bis zur Totalblockade.
2. Misstrauenskultur und Mutlosigkeit
Diesen faulen Kompromissen liegen ein abgrundtiefes Misstrauen und ein völliges Unverständnis von weiten Teilen der Politik und Kassen gegenüber freiberuflichen und selbstständigen Strukturen zugrunde, wie es haus- und fachärztliche Praxen und ihre Selbstverwaltung sind. Es herrscht ein tief verwurzelter Glaube an die Planbarkeit und die Wirksamkeit staatlicher Eingriffe in das System vor. Staatliche Gesundheitssysteme sind nachweislich höchst ineffizient – dennoch findet man das Denken in Strukturen nur mit Angestellten attraktiv.
Insgesamt herrschen Furcht und Mutlosigkeit vor. Sogenannte Expertenrunden bestimmen häufig das Geschehen. Diese werden allzu häufig nach politischen Gesichtspunkten ausgesucht anstatt nach echter Expertise. Verdeckter Lobbyismus ist die Regel. Praktische Erfahrung wird als egoistischer Lobbyismus gebrandmarkt und angebliche Wissenschaft als neutral erachtet. Als Beispiel mag die Tatsache dienen, dass in einer Krankenhausreformkommission Verwaltungsleiter und Vorstandsvorsitzende von Unikliniken sitzen, die natürlich Lobbyisten für ihre Institution sind. Dazu sind sie durch ihre Arbeitsverträge sogar verpflichtet, dafür werden sie bezahlt. Wahrgenommen wird diese Parteilichkeit von der Politik aber nicht.
Ein weiteres Beispiel ist die Ambulantisierung. Das Potenzial wird nicht gehoben und die dringend notwendige Reform der Notfallversorgung bleibt aus. Damit sind die beiden wichtigsten Faktoren, die zu einer effektiven Krankenhausreform unbedingt dazugehören, ausgesetzt. Jede Krankenhausreform wird damit zu einer nur vorläufigen und in wenigen Jahren erneut durchzuführenden Reform. Dann werden aber zum Beispiel die in NRW jetzt viel zu häufig abgeschafften Belegabteilungen fehlen. Dabei ist dies die Versorgungsform, die Patienten wünschen: Versorgung aus einer Hand.
Außerdem glauben weite Teile der Politik, Versicherten bzw. Patienten sei alles zu ermöglichen und nichts zuzumuten. Damit leisten sie einem ungesteuerten und ungebremsten Ressourcenverbrauch durch Patientinnen und Patienten Vorschub. Das Gesundheitswesen wird allzu häufig missbraucht. Ein Verständnis für die eigene Verantwortung für die Inanspruchnahme und die dadurch ausgelösten Kosten medizinischer Leistungen gibt es bei Patientinnen und Patienten in Deutschland selten.
Dem unbegrenzten Leistungsversprechen der Politik und der unbegrenzten Inanspruchnahme durch Patientinnen und Patienten stehen künftig zunehmend weniger Ressourcen gegenüber. Dieses Missverhältnis ist auf Dauer nicht tragbar. Schon gar nicht kann die dadurch bestehende Unterfinanzierung einseitig auf dem Rücken von Ärztinnen und Ärzten und ihrer Medizinischen Fachangestellten ausgetragen werden.
3. Budgetierung und Leistungskürzungen
Der medizinische Bedarf steigt durch die Alterung der Gesellschaft. Gleichzeitig ist die Medizin eine immer besser werdende „halfway technology“ (häufig macht Medizin Menschen nur weniger krank und langlebiger, anstatt sie tatsächlich zu heilen). Der dadurch bedingte höhere Leistungsbedarf wird von Kassen und Politik allzu häufig als eine ungerechtfertigte Leistungsausweitung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte interpretiert. Dies führte zur Budgetierung medizinischer Leistungen in Praxen und in der Folge zur Bedarfsplanung.
Diese Budgetierung hält seit 30 Jahren an und hat jeden Sinn verloren, da sie sich in den Regionen aufgrund vieler Einflussfaktoren völlig unterschiedlich entwickelt hat. Sie ist nur noch ungerecht und benachteiligt bestimmte Regionen und Fachgruppen.
Im Grunde ist sie eine willkürliche Kostendämpfungsmaßnahme, die die einen trifft und die anderen nicht. Das ist nicht rational. Die Folgen der Budgetierung werden dann den Ärztinnen und Ärzten angelastet. Terminprobleme, Wartelisten und Wartezeiten in den Praxen sind aber Folge der gewollten Leistungskürzungen durch die Budgetierung. Diese Budgetierung zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode durch die Streichung der Neupatientenregelung erneut zu verschärfen, hat das Fass zum Überlaufen gebracht, weil sie erstmals dem System wieder Geld entzieht.
4. Systematische Abschreckung des Nachwuchses
Insgesamt hat all dies katastrophale Folgen. Regressandrohung, Budgetierung, Überregulierung, Bürokratie und ständige Eingriffe der Politik, die zur völligen Unplanbarkeit führen, schrecken junge Ärztinnen und Ärzte ab, sich niederzulassen. Die Tatsache, dass die nachwachsende Generation zum einen im Wesentlichen durch Ärztinnen geprägt sein wird, zum anderen eigene Vorstellungen hinsichtlich Work-Life-Balance hat, trägt zu einer Reduzierung der insgesamt zur Verfügung stehenden ärztlichen Arbeitszeit bei. Die Versorgung auf dem Lande wird zusätzlich erschwert, da auch die (Ehe-)Partner Arbeitsplätze brauchen, die auf dem Lande häufig nicht zur Verfügung stehen. Die Zahl der effektiven Arztstunden sinkt ständig.
5. Ärzte- und Fachkräftemangel
Weiter verschärft wird dieser Arztstundenrückgang durch den Ärztemangel. Noch vor einigen Jahren haben Politik und Krankenkassen einen Ärztemangel bezweifelt. Nun ist er eine Tatsache. Präventives Handeln wurde unterlassen und versäumt. Die Aufstockung von Studienplätzen unterblieb. Bis heute ist man nicht bereit, die notwendigen 5.000 zusätzlichen Studienplätze zur Verfügung zu stellen. Damit zementiert sich der Ärztemangel mindestens für die nächsten elf bis 15 Jahre.
Er ist auch durch Zuzug aus dem Ausland nicht in den Griff zu bekommen, da die Zuwanderung bereits in einem Ausmaß geschehen ist, dass kaum noch weitere Ärztinnen und Ärzte zu gewinnen sind. Zudem ist ein solches Vorgehen absolut unsolidarisch gegenüber den meist ärmeren Staaten, in denen die selbst ausgebildeten Fachkräfte dann fehlen. Ähnliches gilt für den Mangel an Pflegekräften und Medizinischen Fachangestellten.
6. Pseudolösungen und ausbleibende Digitalisierung
Es gibt einen festen Glauben daran, dass Substitution und Digitalisierung die Lösung des Ärztemangels sein könnten. Dieses ist ein Irrglaube. Substitution heißt Ersatz ärztlicher Tätigkeit. Dann ist es aber keine ärztliche Tätigkeit mehr. Die damit einhergehende Versorgungsverschlechterung wird verschwiegen.
Eine Substitution setzt im Übrigen voraus, dass für diese Tätigkeiten Menschen zur Verfügung stehen. Dies ist in Deutschland nicht der Fall. Der Fachkräftemangel sowohl in der Pflege aber eben auch bei den Medizinischen Fachangestellten ist eklatant. Setzt man diese für Substitution ein, fehlen sie an anderer Stelle. Auch hier muss dringend gegengesteuert werden. Eine bessere Vergütung für diese Tätigkeiten ist unerlässlich. Auch die Wertschätzung für den Beruf der MFA muss sich deutlich steigern.
Die Digitalisierung, insbesondere die durch die gematik versuchte, wurde in Deutschland so stümperhaft angepackt, dass sie eher zur Abschreckung vor digitalen Anwendungen führte als zu einer begeisterten Aufnahme. Man denke nur daran, dass die erste Anwendung für lange Zeit ausschließlich das Versichertenstammdatenmanagement war, ohne praktischen Nutzen für die Patientinnen und Patienten, aber auch die Arztpraxen. Das rächt sich nun.
Arztpraxen sind heute intern bis zu ihrer Praxistür vollständig digitalisiert. Danach gibt es weder ausreichend Glasfaserleitungen, noch schnelle Anwendungen, noch die notwendige Sicherheit und schon gar keine faire und ausreichende Finanzierung. Zu glauben, dass ein solch insuffizientes System fehlende Ärzte und Ärztinnen ersetzen könne, ist absurd.
7. Unterfinanzierung der Praxen
Ein weiterer Faktor für den Niedergang des ambulanten Gesundheitswesens ist die Tatsache, dass der stationäre Sektor in Deutschland überbetont wird. Er ist aber gleichzeitig die ineffizienteste Struktur in unserem Gesundheitswesen. Krankenhäuser beziehen 50 Prozent ihrer stationären Patienten aus ihrer Notaufnahme. Vieles, was ambulant gemacht werden könnte, wird in Deutschland noch stationär diagnostiziert und behandelt.“
In der Pandemie haben die Krankenhäuser am lautesten geschrien. Die Bilder von den Intensivstationen mit beatmeten Patienten und erschöpften Pflegekräften haben jeden beeindruckt und so flossen weitere Milliarden in die Krankenhausstruktur. Der effizient arbeitende niedergelassene Bereich – 19 von 20 Corona-Patienten wurden in den Arztpraxen behandelt! – wurde dabei vergessen. Schließlich gab es dort keine dramatischen Bilder zu senden und etwas, das funktioniert, wird häufig übersehen.
Die Folgen sind eine Vernachlässigung, eine fehlende Wertschätzung und eine Unterfinanzierung des ambulanten Gesundheitswesens. In der nächsten Pandemie wird man über den dann nicht mehr funktionierenden ambulanten Bereich berichten können.
8. Fehlende Wertschätzung gegenüber Praxen
Noch allerdings funktioniert der niedergelassene Bereich. Er funktionierte bislang wohl zu gut. Diesem Bereich wird vonseiten der Politik und auch der Krankenkassen gerade deshalb keine Wertschätzung entgegengebracht. Einmalig klatschen oder wohlfeile Worte sind keine Wertschätzung. Wertschätzung drückt sich durch Taten aus. Das Ausbleiben einer Corona-Prämie für die Medizinischen Fachangestellten, Nullrundenangebote von Krankenkassen und das Schwingen der ethischen Keule bei jeder Gelegenheit lassen tief blicken.
Ethik ist keine Einbahnstraße, sie gilt auch für Krankenkassen und Politik. Ein Beispiel: Seit Jahren geht die Anzahl der ambulant operierenden Hals-Nasen-Ohren-Ärzte zurück. Dies führt zu Wartezeiten. Als der HNO-Berufsverband jetzt eine Protestaktion als Mahnung und Warnung ins Leben gerufen hat, die zu einer weiteren Reduzierung von Operationen führte, wurde fleißig von Politkern und Kassenfunktionären die ethische Keule geschwungen und die Krankenkassen argumentierten mit Mischkalkulation verschiedener Operationen und mit dem angeblichen Gesamteinkommen von Ärzten. Die Krankenkassen halten tatsächlich den Preis von 104 Euro für eine 30- bis 40-minütige Operation mit erheblichem Blutungsrisiko an einem Kind in Narkose für gerechtfertigt. Eine Dauerwelle in Deutschland kostet ungefähr 130–200 Euro. Der Preis von 104 Euro für eine Kinderoperation ist absurd.
Genau darin drückt sich die fehlende Wertschätzung, ja die Verachtung gegenüber Ärztinnen und Ärzte aus. Die Argumentation mit einem angeblichen Einkommen von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zeigt, dass man lieber mit falschen Zahlen eine unverschämte Neiddebatte anzettelt, als sich um das Problem zu kümmern. Dieses Verhalten der Krankenkassen ist unwürdig, unethisch. Die jetzt schon seit Jahrzehnten fehlende Wertschätzung von Politik und Krankenkassen führt zu einer inneren Emigration von Ärztinnen und Ärzten. Die Folge sind Dienst nach Vorschrift und Frühpensionierung. Beides prägt zurzeit den niedergelassenen Bereich. Beides ist in der jetzigen Situation aber absolut kontraproduktiv.
9. Bürokratie ist wichtiger als Effektivität
Eine ausufernde Bürokratie lähmt das System zunehmend. Jeder, der sich schon einmal niedergelassen, einen Praxispartnerwechsel vorgenommen oder eine Genehmigung beantragt hat, kennt dies. Formulare über Formulare. Basis der Formularwut sind aber Gesetze. Dazu kommen übertriebene Hygienevorschriften, Datenschutzerklärungen und vieles mehr. Auch das schreckt von der Niederlassung ab und zermürbt die bereits niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. Die innere Emigration nimmt zu.
10. Fehlanreize
Budgetierung, Bedarfsplanung, Honorarverteilungsmaßstäbe und die Leistungsfeindlichkeit des Systems führen zu Fehlanreizen mit einer Überbetonung der Behandlung von häufig nur weniger ernst erkrankten Menschen. Patientinnen und Patienten, deren Krankheiten aufwändig und mühsam sind, werden in diesem System zu den unattraktivsten Patienten gestempelt. Die Abschaffung der Neupatientenregelung fördert dies enorm. Die falsche Priorisierung von Patienten im System zu ändern, setzt aber die Reform in den vorgenannten Punkten 1–9 voraus.
Fünf Thesen zur Rettung des ambulanten Gesundheitswesens:
1. Budgetierung beenden, Niederlassungsfreiheit wiederherstellen
Ärztinnen und Ärzte lassen sich immer dort nieder, wo sie gebraucht werden. Damit dies wieder möglich wird, sind drei Bedingungen zu erfüllen. Erstens braucht es ausreichend medizinischen Nachwuchs, also mehr Studienplätze. Nur wenn es ausreichend Ärztinnen und Ärzte gibt, werden sich Ärztinnen und Ärzte auch an weniger attraktiven Standorten niederlassen, da die attraktiven Standorte dann überversorgt sind.
Zweitens muss die Budgetierung abgeschafft werden. Leistung muss sich lohnen. Sofort würden soziale Brennpunkte mit vielen Patienten wieder attraktiv.
Drittens muss die Niederlassungsfreiheit wiederhergestellt werden. Nur die Freiheit, sich niederzulassen, wo man möchte, führt dazu, dass Ärztinnen und Ärzte dorthin gehen, wo sie ausreichend Patientinnen und Patienten finden. Außerdem können sich Ärztinnen und Ärzte dann dort niederlassen, wo die Patientinnen und Patienten auch zu ihnen passen. Niederlassung ist mehr als eine wirtschaftliche Entscheidung. In sozialen Brennpunkten tätig zu sein, ist medizinisch und menschlich sehr attraktiv, und vielen Ärztinnen und Ärzten liegt dies ethisch näher als die 100. Praxis in Blankenese zu eröffnen.
Die Budgetierung führt aber zu einer Überbetonung von Zusatzeinnahmen und das ist kontraproduktiv. Eine kleinräumige Bedarfsplanung ist unter Budgetbedingungen sowieso zum Scheitern verurteilt, denn dort, wo sich keiner niederlassen möchte, führt die beste Planung nicht dazu, dass sich jemand niederlässt.
Die zeitliche Abfolge der Reformschritte ist wichtig: Zunächst ist die bessere Vergütung der Medizinischen Fachangestellten bei gleichzeitiger Entbudgetierung und Befreiung der Selbstverwaltung von den jetzigen bürokratischen Fesseln durchzuführen. Zeitgleich müssen die Ambulantisierung und die Notfallreform einsetzen sowie 5.000 zusätzliche Studienplätze für Medizin geschaffen werden. Vollständige Niederlassungsfreiheit und Aufhebung der Bedarfsplanung können dann in etwa zehn bis zwölf Jahren folgen. Schrittweise kann in bestimmten Regionen zuvor bereits die Bedarfsplanung aufgehoben werden. Weitere Verschärfungen der Bedarfsplanung sind unbedingt zu vermeiden. Sie führen zu nichts.
2. Selbstverwaltungsempowerment
Die Selbstverwaltung muss ihre Gestaltungsfreiheit zurückbekommen. Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen müssen kassenartenspezifisch so miteinander verhandeln können, dass die Gestaltung von Versorgung attraktiv ist. Dazu müssen Schiedsämter so befähigt werden, dass sie willens, fähig und in der Lage sind, mutige Entscheidungen zu treffen.
Dies erhöht auch den Entscheidungsdruck auf die beteiligten Parteien, sich einigen zu wollen, anstatt sich auf die eigenen Maximalforderungen zurückzuziehen. Die jetzt auf dem Tisch liegenden Vorschläge der Politik zur Schaffung von Parallelstrukturen, wie Gesundheitsregionen und substitutiven Gesundheitskiosken, deren Verwaltung erneut und zusätzliches Geld kosten würde, könnten so vermieden werden.
3. Effektive Krankenhausreform mit umfassender Ambulantisierung und einschneidender Notfallreform
Wir brauchen eine Krankenhausreform, die auch diesen Namen verdient. Dazu müssen die Hebel in Bewegung gesetzt werden, die den größten Effekt haben werden. Dies ist die ambulante Erbringung vieler Leistungen, die heute noch stationär erbracht werden. Entsprechende Kataloge von Gutachtern und Verbänden liegen vor. Diese neuen ambulanten Leistungen müssen sowohl von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten als auch von Krankenhäusern, vorzugsweise in einer Kooperation, erbracht werden können.
Gleichzeitig muss eine Reform der Notfallversorgung durchgeführt werden, die mithilfe von integrierten Notfallzentren und einem Ersteinschätzungsverfahren an einem gemeinsamen Tresen von KV und Krankenhaus dafür sorgt, dass sich die Anzahl der heute noch aus Notaufnahmen stationär aufgenommenen Patienten deutlich reduziert. Dieser gemeinsame Tresen muss unter Leitung der KV stehen, so wie es der Sachverständigenrat seinerzeit in dem entsprechenden Gutachten vorgeschlagen hat. Beides zusammen würde nicht nur zu finanziellen Einsparungen führen, sondern eine Strukturreform der Krankenhäuser zulassen, die zugegebenermaßen einschneidend wäre.
Der Krankenhaussektor ist der größte Kostenfaktor im Gesundheitswesen. Mittel- bis langfristige Einsparungen sind hier am effektivsten und unerlässlich, um das Gesamtsystem zu stabilisieren. Gleichzeitig mitgeregelt werden muss die Finanzierung der Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten und es muss ein Status für den niedergelassenen Arzt, der Leistungen in der stationären Versorgung erbringt, geschaffen werden. Rechtssicherheit ist hier unabdingbar. Nur dann werden die Sektorengrenzen überwunden.
4. Nutzerorientierte Digitalisierung
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens muss nutzerorientiert werden. Als Nutzer gelten sowohl Patientinnen und Patienten als auch Ärztinnen und Ärzte. Beispielsweise muss die digitale Aufnahme bereits vor dem Praxisbesuch durch die Patientinnen und Patienten auf ihrem PC oder Smartphone erfolgen, also ein Praxis-Check-In vergleichbar mit jenem auf dem Flughafen. Digitale Rezepte, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen etc. müssen sicher und einfach in der Anwendung sein. Alternative analoge Prozesse müssen etabliert und ebenso einfach durchführbar sein. Alles muss ausreichend getestet und erprobt worden sein – in der Praxis unter Beteiligung von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, die noch in der Versorgung tätig sind.
5. Mitbeteiligung der Patienten
Alle Akteure im Gesundheitswesen müssen sich an der Stabilität des Systems beteiligen. Zurzeit sind dies im Wesentlichen Ärztinnen und Ärzte, die durch Budgetierung, Bedarfsplanung und Bürokratie begrenzt und belastet werden. Diese Belastungen sind abzubauen. Krankenkassen müssen dazu verpflichtet werden, sich tatsächlich im Zusammenspiel mit den Kassenärztlichen Vereinigungen um medizinische Versorgungsgestaltung zu kümmern. Patientinnen und Patienten müssen aber genauso zur Stabilität des Systems beitragen.
Zuzahlungen, Strafgebühren bei versäumten Terminen und verpflichtende Teilnahme an bestimmten Vorarbeiten sind unabdingbar. Dazu gehört auch eine finanzielle Beteiligung des Patienten, wenn er ohne vorherige telefonische Ersteinschätzung in die Notaufnahme des Krankenhauses geht. Patientinnen und Patienten sollen sich in Zukunft vor dem Arzt- und Praxisbesuch digital einchecken können, Anamnesebögen ausfüllen, Patientenerklärungen digital unterschreiben und ihre Kontaktdaten hinterlassen. Dadurch entlasten sie die Medizinischen Fachangestellten der Praxen. Damit sind außerdem Zuzahlungen, Ausfallgebühren etc. digital problemlos über die gesetzlichen Krankenkassen möglich.
Des Weiteren müssen Patientinnen und Patienten verpflichtet werden, sich im Notfall außerhalb der Dienstzeiten niedergelassener Praxen zunächst telefonisch bei der 116 117 zu melden; dort werden sie nach Durchlaufen des Ersteinschätzungsverfahrens der richtigen Versorgungsstufe zugewiesen. Wer davon abweicht, hat die Inanspruchnahme der Notfallstrukturen selbst zu bezahlen. Dies gilt natürlich nicht für den Einsatz eines Notarztwagens. Krankenhäuser, die kein integriertes Notfallzentrum zugewiesen bekommen haben, müssen ihre Notaufnahmen schließen. Patienten, die nach Durchlaufen eines INZ stationär aufgenommen werden, werden nach einem Schlüssel auf alle Krankenhäuser gerecht verteilt.
Mit diesen Maßnahmen wäre eine kurzfristige Stabilisierung des Systems möglich. Mittel- und langfristig könnte so eine bessere Verzahnung von ambulanten und stationären Strukturen gelingen. Krankenhäuser würden auf das notwendige Mindestmaß reduziert. Die ambulante Versorgung der Bevölkerung würde ausgeweitet durch die Leistungserbringung der neuen ambulanten Leistungen sowohl durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte als auch durch Krankenhäuser in Kooperation. So würde eine patientengerechte Versorgung aus einer Hand mit möglichst wenig Informationsverlusten durch Sektorenwechsel möglich. Niederlassung würde auch in den sozialen Brennpunkten der Städte wieder attraktiver. Echte Versorgungsplanung durch Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen würde auf Landesebene wieder möglich.
Wir haben das Wissen und die Fähigkeiten, diesen Wandel herbeizuführen – aber noch fehlt der Wille und der Mut dazu.
Link zum Artikel: https://www.aerztezeitung.de/Politik/Zehn-Todsuenden-fuehren-zur-Krise-der-ambulanten-Versorgung-und-fuenf-Thesen-zu-ihrer-Rettung-442070.html