Die am 8. Dezember 2021 geschmiedete „Ampel“-Koalition“ ging unter dem selbst gewählten Motto „Fortschritt wagen!“ an den Start. Seit dem 6. November 2024 ist sie bereits Geschichte, die Neuwahlen für den 21. Deutschen Bundestag sind für den 23. Februar 2025 angesetzt. Bis zur Neubildung einer arbeitsfähigen Regierung dürften weitere Monate vergehen. Zeit genug für die Interessenvertretungen im Gesundheitswesen, sich mit ihren Forderungen, Sorgen und Wünschen neu zu positionieren. Denn noch weiß niemand, wer ab dem 2. Halbjahr 2025 in der Berliner Mauerstraße „regieren“ wird und damit das Sagen hat. Einer der ersten, führenden Repräsentanten der deutschen Ärzteschaft, der bereit ist, nicht nur eine Bilanz der letzten drei Jahre zu ziehen, sondern auch die „Großbaustellen“ im Gesundheitswesen zu beschreiben, ist der seit 2015 amtierende Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands (SpiFa), Dr. med. Dirk Heinrich (64). Der kämpferische HNO-Arzt aus Hamburg – zugleich auch Bundesvorsitzender des traditionsreichen Virchowbundes – skizziert in seinem Namensbeitrag die aus Sicht der niedergelassenen Mediziner notwendigen „Arbeitsanweisungen“ an eine künftige Koalition in Berlin, wie die „Großbaustellen“ beseitigt werden könnten. Vor allem plädiert der erfahrene ärztliche Berufspolitiker dafür – endlich – den uralten gesundheitspolitischen Grundsatz „ambulant vor stationär“ mit entsprechendem Leben zu erfüllen statt faule Kompromisse wie bisher einzugehen. Denn Gesundheitsversorgung finde durch Mediziner statt, nicht durch Ministerialverwaltungen, Parlamente oder Körperschaften. Mit dem Namensbeitrag setzt die dfg-Redaktion ihre Meinungsrubrik „Ich bitte um das Wort!“ fort. In dieser erhalten Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger aus dem Gesundheitswesen die Möglichkeit, statt in Interviews zu aktuellen Themen und Vorgängen Stellung zu beziehen.
Die Reform der Notfallversorgung, das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) sowie weitere Gesetzgebungsvorhaben laufen mit ziemlicher Sicherheit in die Diskontinuität. Auch weil keines dieser – um es diplomatisch auszudrücken – handwerklich hochgradig ausbaufähigen Gesetzespakete die Beschlussreife erreicht hat. Und die vom Bundestag beschlossene, wenig stringente und konsequente Krankenhausreform wurde offenbar vor allem deshalb von den Ländern nicht im Vermittlungsausschuss „versenkt“, weil die finanziellen Bedingungen für die Krankenhäuser besser sind als der Status-quo. Es wäre geradezu naiv, auf eine finanzielle Gießkanne für die Krankenhäuser zu hoffen, von der niemand weiß, wie diese eigentlich finanziert werden könnte.
Von den Ankündigungen und Versprechungen des Bundesministers Lauterbach bleibt fast nichts. Die Erinnerungen daran verblassen jeden Tag. Was aber bleiben könnte: Die Erinnerung an eine geradezu undemokratische gesundheitspolitische Kultur. Wer ist nicht alles vom noch amtierenden Gesundheitsminister als Lobbyist diffamiert worden, während Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen häufig genug völlig ignoriert, Gesetzentwürfe „im Schweinsgalopp“ durch den Deutschen Bundestag gepeitscht und Änderungsanträge bis zur letzten Minute geheim gehalten wurden? Offener und konstruktiver Diskurs, inhaltliche öffentliche Debatte getragen von interessierter und informierter Öffentlichkeit? Fehlanzeige! So ein System fördert vor allem eines: die Hinterzimmer-Politik.
Dabei hatte die selbsternannte Zukunftskoalition viele Handlungsfelder in ihrem Koalitionsvertrag richtig aufgezeigt: Krankenhaus- und Notfallversorgung, Ambulantisierung, Entbürokratisierung, anwenderorientierte Digitalisierung. Das darf auch durchaus als mutig bezeichnet werden.
Was dann folgte war – als hätten wir in Deutschland ein Erkenntnisproblem – die Einsetzung einer Regierungskommission, bestückt mit dem einen oder anderen Krankenhauslobbyisten, aber ohne nennenswerte Expertise für die ambulante Versorgung und ein öffentlich ausgetragenes, über fast zwei Jahre andauerndes Gezänk und Geplänkel mit den Ländern, in dem es, wie beim ordinären Nachbarschaftsstreit, oft genug offenbar nur darum ging, Recht zu haben, statt die Versorgung zu verbessern.
Was auch bleiben wird: Die Erinnerung an die Kostendämpfungskeule des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes, das mit der fragwürdig begründeten Abschaffung der Neupatientenregelung die Terminsituation für die Patientinnen und Patienten bei nunmehr Rekordbeiträgen zur GKV verschlechtert hat.
Der SpiFa sieht weiterhin die Dringlichkeit, so schnell wie möglich umfassende und konsequente Reformen bei Krankenhaus- und Notfallversorgung voranzutreiben, die auch die ambulante Versorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte mitdenken, um in Deutschland endlich wieder zu einer bedarfsgerechten medizinischen Versorgung zu kommen.
Die ambulante Versorgung brennt. Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind gezwungen, die schon seit Jahren bestehende gesundheitspolitische Reformunfähigkeit in den allseits bekannten Großbaustellen trotz Fachkräftemangels und steigenden Betriebskosten finanziell und strukturell zu kompensieren. Dieser Flächenbrand muss gelöscht werden. Die Großbaustellen des Gesundheitswesens dulden keinen Aufschub. Die Politik im Bund und in den Ländern muss deshalb Handlungsfähigkeit beweisen.
Für eine auf den medizinischen Bedarf ausgerichtete Gesundheitsversorgung ist die Stärkung der ambulanten Versorgung von essentieller Bedeutung. Dazu braucht es natürlich mehr Flexibilität und weniger Bürokratie. Die Entbudgetierung der gesamten vertragsärztlichen Versorgung ist dabei auch ein Baustein, die Patientinnen und Patienten aus der vielfach teureren stationären Versorgung herauszuhalten und endlich adäquat ambulant versorgen zu können. Es muss bei der Grössenordnung, die ambulant-sensitive Krankenhausfälle mittlerweile angenommen haben, darum gehen, diese stationären Fälle konsequent zu vermeiden.
Nicht nur in der Notfallversorgung, sondern auch in der originären ambulanten Regelversorgung brauchen wir mehr Eigenverantwortung und Patientensteuerung.
Was für die Notfallversorgung die integrierten Leitstellen und der gemeinsame Tresen als zentrale Ersteinschätzungsstelle sind, ist für die ambulante Regelversorgung das primärärztliche System. Gemeint sind die koordinierende Ärztin bzw. der koordinierende Arzt. Das kann und sollte bei multimorbiden Patientinnen und Patienten, die regelhaft mehre Fachärztinnen und Fachärzte unterschiedlicher Gebiete aufsuchen müssen, sicherlich eine Hausärztin oder ein Hausarzt sein. Bei Patientinnen und Patienten, jung oder alt, die nur eine chronische Erkrankung haben und regelhaft ihre Fachärztinnen oder ihren Facharzt öfter als ihre Hausärztin oder ihren Hausarzt sehen – wenn sie überhaupt einen haben – wäre allerdings eine hausarztzentrierte Versorgung töricht. Nicht nur, weil die Kapazitäten der Hausärztinnen und Hausärzte dieses überhaupt nicht hergeben. Es wäre schlichtweg unwirtschaftlicher und zeitraubender Bürokratismus, müssten sich jene Patientinnen und Patienten vor jedem Besuch ihrer vertrauten Spezialistin bzw. ihres Spezialisten eine Überweisung abholen.
Die Ambulantisierung des medizinischen Leistungsgeschehens muss endlich entschieden angegangen werden. Auch hier hinkt Deutschland im internationalen Vergleich massiv hinterher. Immer noch werden mindestens ein Viertel aller ambulantisierbaren Leistungen in einem vollstationären Krankenhaus-Setting erbracht. Es muss endlich darum gehen, diese Leistungen zu ambulantisieren und zwar für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte unter den gleichen Bedingungen, wie für die Krankenhäuser. Der Grundsatz ambulant vor stationär muss deshalb endlich mit Leben gefüllt und ökonomisch Anreize zur Ambulantisierung gesetzt werden. Dazu müssen auch die Hybrid-DRG sinnvoll weiterentwickelt werden, statt sie zu einer Art hochbürokratischem Sparinstrument zum bestehenden AOP-Katalog verkommen zu lassen, wie sich dies im letzten Moment „aus dem Hut gezauberten“ Änderungen des KHVVG andeutet hat. Bei aller Ablehnung einer Ambulantisierung über den ministerialen Verordnungsweg wird zukünftig auch darüber gesprochen werden müssen, wie zielführend das Konzept der Vertragslösung über KBV, DKG und GKV-SV auch im Zusammenspiel mit dem InEK ist.
Bei der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens wird es darum gehen müssen, endlich konsequent auf die praxisbezogenen Anwenderinnen und Anwender zu fokussieren. Die anwenderorientierte Digitalisierung und Systeme die verlässlich funktionieren, die ausgetauschte Daten auch verstehen, also viel mehr sind, als digitale Leitz-Ordner, können ebenso einen enormen Beitrag zur Entlastung der medizinischen Versorgung leisten, wie ein verpflichtender online Check-in in die Praxis am Vorabend eines Termins. Wer aber die Digitalisierung zur Steuerung der Ärztinnen und Ärzte nutzen will und versucht die Hoheit über die Terminvergabe den Praxisinhabern zu entreißen, erklärt der Ärzteschaft den Krieg. Ein solcher Angriff auf die ärztliche Freiberuflichkeit wird schonungslos beantwortet werden. Klar muss sein: Es sind weder Parlamente, noch Ministerialverwaltungen noch Körperschaften, die Patientinnen und Patienten versorgen. Es sind die Ärztinnen und Ärzte.
Quelle: Dienst für Gesellschaftspolitik, Ausgabe 48 – 24 vom 28. November 2024
Wortbeitrag herunterladen: „Ich bitte um das Wort!“: Dr. Dirk Heinrich (SpiFa)